3.1.1 Wort und Wurzel

Sucht ist das alte und allen germanischen Sprachen gemeinsame Wort für Krankheit und ist seit dem 8.Jahrhundert im Althochdeutschen bezeugt als ‘suht’ (gesprochen mit hartem h). Auch im Altsächsischen und Altenglischen schrieb man ‘suht’, schon früher, im Gotischen, ‘saúhts’, im Altnordischen ‘sott’ (vgl. Pfeifer 1995:1393).

Gebraucht wurde es für alle Krankheiten, außer für durch Verletzung oder Unfälle verursachte. Es gab die schwere, böse, giftige und grimme Sucht, die heiße und die kalte, die gelbe, rote, schwarze, weiße, die welsche, die ungarische und die englische, die geile und die natürliche, nebst unzähligen anderen Formen. Mit Sucht wurden Fieber, Pest und Lepra (Miselsucht) bezeichnet. Bis heute überlebt hat der Begriff Gelbsucht (Icterus bei Leberentzündungen), bis vor kurzem waren noch üblich Schwindsucht (Phtisis bei Tbc) und Fallsucht (Epilepsie) (vgl. dazu Grimm 1942: XX,871ff; auch Rieger 1905:27ff).

Die indogermanische Wurzel des Wortes ist zwar umstritten, es wurden jedoch mehrere Vermutungen angestellt. Eine der plausibelsten Erklärunge ist die Herkunft vom alten indogermanischen Wort für ‘saugen’, welches etwa ‘suk’, ‘sug’, ‘seuk’ oder ‘seug’ lautete. Diese Deutung stammt von Lid 1934, und er hat „auf die alte Vorstellung verwiesen, nach der Dämonen dem Kranken das Leben aussaugen“ (vgl. Pfeifer 1995:1289).

Pokorny dagegen nimmt eine Verbindung zum armenischen ‘hiucanim’ = ‘sieche hin’ und mittelirisch ‘socht’ = ‘Schweigen, Depression’ an, verweist aber auch auf ‘seug’ als Gutturalerweiterung zu ‘seu’ = ‘tropfen, saugen’ (was übrigens auch das Stammwort für ‘saufen’ ist) (vgl. Pfeifer 1995:1170; Pokorny 1959:912f). Alle übrigen Erklärungen wurden von seriösen Sprachwissenschaftlern verworfen (vgl. Grimm 1942: XX,859).

3.1.2 Der magisch‑dämonische Charakter des Wortes

Kann man Sucht also als Oberbegriff für alle Krankheiten verstehen, bei denen einem die Lebenskraft ausgesaugt wird?

Die Erklärung von Lid ist jedenfalls aus mehreren Gründen plausibel. Einmal hat unsere eher rationale Zeit vergessen, wie stark in vorwissenschaftlicher Zeit jegliche Krank­heit als eine „lebendige Wesenheit“, als eine „Erscheinungsform dämonischer Mächte“ vorgestellt wurde (vgl. dazu ausführlich Grimm 1942: XX,861ff; auch Harten 1991:37ff).

Grimm führt dazu etliche Zitate aus dem Althochdeutschen an, die bis zu einer „voll durchgeführten Verlebendigung“ der ‘suht’ gehen. Noch in der mittelhochdeutschen Zeit schrieb Otto von Freising (1184‑1220) in seinem „Laubacher Barlaam“: „Die tievel sie vertríbent, die sühte niht belíbent“ (= Die Teufel sie vertreiben, die Süchte nicht bleiben, cit. in Grimm 1942: XX,861).

Im Volksglauben wurden noch bis in die jüngste Zeit Krankheiten als etwas „von außen her Eindringendes“ vorgestellt (vgl. Grimm 1942: XX,861), verursacht von Dämonen bzw. Elben, denen man auch oft gute Taten nachsagte (vgl. Harten 1991:37ff). „Die meisten primitiven Völker führen die Erkrankungen aller Art nicht auf physische … Ursachen zurück, sondern auf Eingriffe von dämonischen Wesen … Ein anderer Grund des Krankheitsdämonismus liegt im Alptraum“. Der Elb oder „Alp drückt nicht nur, er s a u g t auch“ (so gesperrt gedruckt, vgl. Hoffmann‑ Krayer 1927/30: I,293 und II,153).

Im magischen Weltverständnis liegt es auch, Gleichem mit Gleichem zu begegnen. Eliade weiß: „Wenn die Schamanen die Ursache der Krankheit entdeckt haben, ziehen sie die magischen Objekte durch Saugen heraus“, und: „Saugen und Extraktion des pathogenen Gegenstandes bleiben immer religiös‑magische Operationen“ (Eliade 1975:289 und 317).

Lids Deutung läßt sich auch durch Folgendes stützen: Kluge, der auch die Seemannssprache untersuchte (Halle 1911), und Grimm (1942: XX,895) erwähnen eine Nebenbedeutung von Sucht, die nur an der Ostseeküste verbreitet ist: „saugende Strömung im Meer“ (Kluge 1975:762). Grimm erwähnt außerdem die „Such­tel, f., zum vb. saugen, ‘Mutterschwein’ …“ (Grimm 1942: XX,896). Das Verbum ‘saugen’ hat sich also im Germanischen auf jeden Fall zu Worten mit ‘Sucht’ herausgebildet.

3.1.3 ‘Sucht ‑ Heil’ versus ‘Krankheit ‑ Gesundheit’

Das alte Gegenstück zu Krankheit = Sucht war ‘Heil’ = Gesundheit. In dieser Bedeutung hat es sich bis heute in ‘heilen’ (‘gesund machen’) erhalten. Heil bedeutet aber, ähnlich wie Sucht, noch mehr, und deutet auf eine magisch‑ganzheitliche Weltsicht. Es meinte das persönliche Glück eines Menschen (so noch etwa in ‚Petri Heil!’ erhalten), das ‘Mana’, also die universale Vorstellung einer Lebenskraft, ohne welche das Leben sinnlos war und der Tod nahte.

In diesem ganzheitlichen Sinne blieb das Wort noch als Adjektiv ‘heil’ = ‘unbeschädigt, ganz, nicht kaputt’ erhalten. Mystisch überhöht blieb das Wort auch in ‘heilig’ aktuell, und auch die Nazis griffen bei ihrem ‘deutschen Gruß’ gerne auf die alte Bedeutung der Germanen zurück (zu Heil, heilen, heilig, heil vgl. Pfeifer 1995:523f).

Es ist bezeichnend, daß während der geistigen und gesellschaftlichen Veränderungen, die allmählich zur Neuzeit führten (vgl. 3.2.1), auch die alte magisch-ganzheitliche Vorstellung von ‘Sucht und Heil’ eine Änderung erfährt. Für ‘Sucht’ und ‘siech’ bürgern sich etwa ab dem 14.Jahrhundert ganz allmählich die Worte ‘Krank­heit’ und ‘krank’ ein. „Kranc“ hatte noch im 13.Jahrhundert die alte Bedeutung von „schwach, kraftlos, klein, schmal, gering, schlecht“ und ist mit ‘krumm’ verwandt, im Sinne von „durch Schwäche krumm“, wurde aber nur selten benutzt (vgl. Pfeifer 1995:726).

Die neue Zeit verwarf das alte Wort ‘suht’, das auch eine fast ehrfürchtige, magisch­‑numinose Nuance besaß. Der Kranke spiegelte nicht mehr die Macht eines dämonischen Elbs, sondern wurde nun für schwach, gering und schlecht, für wertlos erklärt. Er wurde in der Tat im zunehmenden Prozeß der Auflösung der alten Feudal‑ und Hausgemeinschaft, der neuen Bedeutung von Handel, Manufakturen, gestiegener Entfremdung und Geldakkumulation, zunehmend wertlos, im ökonomischen Sinne nutzlos.

Gleichzeitig mit ‘Sucht’ trat das Wort ‘Heil’ zurück und wich der ‘Gesundheit’. Diese bezeichnete im Althochdeutschen noch die „Unverletztheit“ ‑ Sucht bezeichnete ja nicht Krankheiten durch Verletzung (vgl. 3.1.1). ‘Gisunti’ meinte das Rüstige und Starke, und ‘Gesundheit’ kann so als das nun Nützliche im Gegensatz zum Wertlos‑Kranken betrachtet werden (zu ‘Gesundheit’ vgl. Pfeifer 1995:442).