3.1.4 Kleiner europäischer Sprachvergleich

Die anderen germanischen Sprachen machten den Bedeutungswandel von Sucht als Krankheit zu Sucht als leidenschaftlichem Laster oder Sünde (vgl. 3.2) nicht oder nur eingeschränkt mit.

Im Dänischen heißt „Krankheit“ bis heute „syge“, das Krankenhaus ist das „sygehus“, die Krankenkasse die „sygekassa“ (vgl. Andresen 1995:462). Das Schwedische hängte an ‘Sucht’ ein ‘tum’ dran und nennt heute Krankheit „sjukdom“ (sjuk­hus, sjukkassa, vgl. Prisma 1992:498).

Das Englische bildet insofern einen Sonderfall, als die Sprache seit der Eroberung durch die Normannen stark französisch geprägt bzw. sich oft schichtspezifisch entwickelte (vgl. house und mansion [=Herrenhaus] für Haus und maison). So wird Krankheit heute eher (vom Altfranzösichen dis‑ease = Unpäßlichkeit und maladie = Krankheit) als ‘disease’ oder ‘malady’ bezeichnet (neben altnordischem ‘illness’), das alte, gemeingermanische ‘suht’ überlebte aber in ‘sick’ und ‘sickness’ (vgl. alle Worte bei Webster’s 1944).

Einzig das Niederländische machte den Bedeutungswandel von ‘Sucht’ zu ‘Laster und Sünde’ mit ‑ einfach weil Holland um 1500 noch ganz zum deutschen Reichs­gebilde gehörte. Erst 1648 wurden die Niederlande unabhängig und nahmen auch sprachlich eine ganz eigene Entwicklung. Darum machte das Holländische auch den zweiten Bedeutungswandel des Wortes im Deutschen ‑ hin zu ‘Rauschmittelsucht’ im 19.Jahrhundert (vgl. 3.3.3) – nicht mit. Im Niederländischen heißt ‘zucht’ zuerst ‘Seufzer’ ‑ lautmalend wie noch im 19.Jahrhundert auch im Niederdeutschen (vgl. Grimm 1942: XX,895) ‑ sodann „Trieb, Sucht nach Macht, Ruhm, Vergnügung oder Freiheit“ (!), und nur in medizinischen Fachkreisen wird ‘zucht’ auch im Sinne von ‘Rauschmittelsucht’ gebraucht (vgl. Gelderen 1993: I,1006).

Die moderne Sucht nach Rauschgiften heißt dagegen ‘Versklavtheit’ („verslaafdheid“, vgl. Gelderen 1993: II,781). Mit Versklavung nennt das Niederländische auch dasjenige europäische Wort für ‘Rauschgiftsucht’, das den größten Beiklang an Ausgeliefertsein und Passivität hat. Rauschgiftsucht wird in den romanischen Sprachen durchgängig als „toxicomanie“, „tossicomania“ etc.=Vergiftungs­manie be­zeichnet (vgl. Lange‑Kowal 1980:506, Italienisch 1976:429), in den slawischen und skandinavischen Sprachen als ‘Narkomanie’ = Betäu­bungsmanie. Manie ist zwar auch eine psychiatrische Diagnose, hat aber doch von seiner ursprünglichen Bedeutung her eine eher aktive Assoziation (griech. manía = Wut, Raserei, Wahnsinn, vgl. Pfeifer 1995:834).

Das englische ‘addiction’ (das es nur noch neben ‘toxicomania’ im Spanischen als ‘drogaddicíon’ gibt, vgl. Grossmann 1989:1043) hat eine ganz eigene Ge­schichte. Es stammt vom lateinischen ad‑dicere ‘zu‑sagen’. So sagten sich etwa die jungen Vestalinnen dem lebenslangen, keuschen Dienst an der Göttin Vesta zu, widmeten dieser ihr Leben. In diesem Sinne als Widmung oder Ergebenheit wurde addiction auch im Englischen gebraucht, etwa in der Briefunterschrift „Most addicted, Thomas Morley“ (ihr sehr ergebener T.M., 1597 notiert).

In diesem Sinne wurde es auch schon früh gelegentlich als ‘addicted to drink’ oder gar ‘addicted to opium’ (dem Trunk bzw. dem Opium ergeben) gebraucht. Aber erst seit den Haager Opium‑Konferenzen um die Jahrhundertwende, als dringend eine Übersetzung für das deutsche Wort Sucht gebraucht wurde, nahm es fast ausschließlich diese negative Bedeutung an (vgl. zu ‘addiction’ Websters 1944:12; Oxford 1989:143; Sonnedecker 1963:901).

Sucht (zumindest im modernen Sinne) ist also ein ganz dem Deutschen eigentümliches Wort, und nur sehr schwer übersetzbar. Nur eines von mehreren französischen Wörterbüchern gab eine der ursprünglichen Bedeutung von ‘Sucht’ ähnliche Bedeutung an, da aber sogar an erster Stelle: ‘mal’, im Sinne von ‘das Schlech­te, Übel, Krankheit’ (Wilhelm 1980:1054). Sonst gibt es nur noch im Türkischen eine interessante Variante: ‘düskünlük’, was eigentlich „Verfall, Armut“ (Korn­rumpf 1979:47) bzw. auch „Heruntergekommensein, sozialer Abstieg“ (Steuerwald 1988: II,319) bedeutet.

3.1.5 Nebenbedeutung Gemütskrankheit

Mit Sucht wurden allerdings auch schon in alter Zeit einige Gemütskrankheiten bezeichnet, die ja auch auf keine äußeren Verletzungen zurückzuführen waren und auch sonst gut in die Krankheitsvorstellung von der dämonischen Besessenheit paßten. Daß auch Gemütskrankheiten mit ‘Sucht’ bezeichnet wurden, dürfte die Übernahme des Wortes für sündhaft‑lasterartige Zustände erleichtert haben. Diese Zustände waren ja auch geistig‑seelischer Natur, ebenso wie dies auf die Rauschmittel‑Sucht nach dem zweiten Bedeutungswandel zutrifft.

An alten, schon vor 1250 bezeugten Gemütskrankheiten tauchen vor allem die Mondsucht, die Tobsucht und die Sehnsucht auf. Alle drei haben die Zeiten nahezu unverändert in ihrer Bedeutung bis heute überdauert. ‘Mondsucht’ (vgl. Grimm 1885: XII,2221f) bezeichnete nicht nur den Somnambulismus (Diefenbach 1470), sondern ‑ wie noch heute im englischen ‘lunatic, lunacy’ erkennbar ‑ eigentlich alle psychischen Erkrankungen, vor allem jene mit Zuständen geistiger Abwesenheit (vgl. auch Harten 1991:92; Rieger 1905:28f). Vergleichbar bezeichnete die Tobsucht psychische Erkrankungen mit destruktiv‑aggressiver Tendenz.

Die ‘Sehnsucht’ bezeichnete eigentlich das schmerzliche Verlangen, die ‘Krankheit’ des noch nicht erfolgreichen Verliebten, so etwa bei Walter von der Vogelweide um 1200 (‘seneder sühte’). Sehnsucht ist wie sehnen ein „dem deutschen vor den übrigen germanischen sprachen eigentümliches wort, charakteristisch für das deutsche gemütsleben“ (Grimm 1905: XVI,151).

Weitere Gemütskrankheiten, die das deutsche Mittelalter kannte, waren die Schlafsucht ‑ „Somnolenz“ (Lexner 1420), „übergroße, krankhafte Neigung zu schlafen“ (Harten 1991:96) ‑ sowie die Schwarzsucht, die neben der körperlichen Krankheit Melanose auch den tiefen seelischen Pessimismus bezeichnet, wie er bei Depressionen anzutreffen ist.

Auch später wurden noch einige wenige Gemütserkrankungen mit dem Beiwort ‘Sucht’ belegt. Im Vorgriff auf das folgende Unterkapitel sollen noch die offensichtlich für die frühe Neuzeit typischen Gemütskrankheiten genannt werden, jeweils mit dem Datum der ersten Erwähnung in Klammern. Dieses System wird auch im folgenden Unterkapitel der Einfachheit halber angewandt. Die Jahreszahlen der ersten Erwähnung stammen aus Grimms Wörterbuch, 1854‑1971 erschienen, oder aus Harten 1990:83ff, vergleiche also dort unter dem jeweiligen Stichwort!

Die in der frühen Neuzeit geprägten Sucht‑Gemütserkrankungen waren also die Liebessucht (1572), die Milzsucht (Hypochondrie, bei Rieger 1905:27 als ‘Spleen’ bezeichnet), die Zweifelsucht (1605), dazu verwandt die Grübelsucht (1669). Auch die Starrsucht (Katalepsie) ist wohl eine ältere Prägung.

Dann fanden die Neuprägungen für Sucht‑Kompositawörter, die Gemütserkrankungen bezeichnen, ein Ende, sieht man vom seltenen ‘Diebssucht’ für Kleptomanie ab (1899 das erstemal erwähnt, aber vielleicht schon früher geprägt.)

3.2.1 Die Wende zur Neuzeit

Mit dem Jahr 1500 läßt man gemeinhin die Neuzeit beginnen. Ich will nur einige der berühmtesten Neuerungen nennen, mit denen man die ‘Zeitenwende’ begründet und die dem aufstrebenden Bürgertum zu einer ‘neuen Zeit’ verhalfen.

1492 entdeckte Christoph Columbus Amerika und erschloß damit ganz neue Möglichkeiten und langfristig eine Neue Welt für das Bürgertum. Wichtiger vielleicht noch für die damalige Welt war der Seeweg ins echte Indien, den Vasco da Gama 1498 entdeckte.

Von den technischen Entwicklungen ragt die Erfindung des Buchdrucks heraus (Gutenberg‑Bibel 1455), die dem Bürgertum in anderem Sinne eine neue Welt und eine ihm gemäße nützliche Waffe schenkte. Die Wiederentdeckung des heliozentrischen Sonnensystems durch Kopernikus 1507 ist ein weiteres Zeichen eines alte Autoritäten stürzenden neuen Weltbildes, bevor 1517 Luther den bis dahin allumfassenden (=katholikos) christlichen Glauben spaltete.

Alle genannten Entdecker und Neuerer entstammten nicht der herrschenden Adelsschicht (außer da Gama) oder der Bauernschaft, sondern ‑ wie selbstverständlich ‑ dem aufstrebenden städtischen Bürgertum. Die Väter der Genannten waren: ein Webermeister aus Genua (Columbus), der Mainzer Patrizier Gensfleisch (Gutenberg), ein Kaufmann aus Thorn/Pommern (Kopernikus), ein Bergbauunternehmer aus Eisleben/Thüringen (Luther) (vgl. Fassmann 1974:514, 228,672, 814). Vasco da Gamas Vater war ein kleiner portugiesischer Adliger, der eine abgelegene Festung befehligte (vgl. Britannica 1991: unter ‘Gama’).

Private Handelshäuser wie die Fugger in Augsburg (Blei‑, Silber‑, Kupferkontrolle, Quecksilbermonopol) oder einige Jahrzehnte zuvor die Medici in Florenz (Orienthandel, Alraunmonopol) dokumentieren die neue Macht des Bürgertums. Lorenzo Medici ‘der Prächtige’ wird selber Staatsmann, steuert wie sein Vater die Papstwahlen und führt 1469‑1492 Florenz zu höchster Blüte. Im Deutschen Reich finanziert 1519 Jakob Fugger ‘der Reiche’ dem wohl bedeutendsten deutschen Kaiser zwischen 1250 und 1800, Karl V. die Kaiserwahl und etliche Kriege (alle Daten vgl.Hil­gemann& 1964: I, 215,221).