1.1.1 Griechenland – Die Heimat im östlichen Mittelmeer

„Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Nacht?
Was hältst du unter deinem Mantel,
das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht?
Köstlicher Balsam tropft aus deiner Hand,
aus dem Bündel Mohn“
Novalis, Hymnen an die Nacht, 1800

„Die botanische Systematik kennt heute über 700 Arten der Gattung Mohn, der Spezies ‘Papaver’„ (Seefelder 1990:7), die in vielen leuchtenden Farben vorkommt und darum bei den Menschen sehr beliebt ist. Aus einer Wildform wurde „durch das einfache Verfahren der Auslese“ der Schlafmohn, Papaver somniferum, entwickelt (vgl. Seefelder 1990:7). „Als Stammpflanze … gilt Papaver setigerum“ (Kreutel 1988:11f), „kleiner und zarter als der Schlafmohn“, die Blütenblätter „von trüb violetter Farbe“, mit schwarzen Samen (vgl. Hartwich 1911:144).

Schlafmohn wird aus drei Gründen angebaut: einmal als Zierpflanze, dann „zur Gewinnung des sehr ölhaltigen Samens des Mohns als Lebensmittel (‘Mohnkuchen’)“ (Geschwinde 1996:198), und zur Gewinnung des Milchsaftes der Kapsel (Opium) wegen seines Morphingehalts. Morphin kommt in den wilden Mohnarten nur „in äußerst geringen Mengen vor“ (vgl. Geschwinde 1996:200), bei Setigerum liegt der Morphingehalt höher (vgl. Hartwich 1911:145), bei Somniferum liegt der Gehalt sogar zwischen „6,8 bis etwa 20 Gewichts‑%“ des getrockneten Milch­safts (vgl. Ge­schwinde 1996:227). Morphin ist damit das wichtigste der etwa 25 Alkaloide des Opiums und wird in der Medizin heute vor allem als Analgetikum eingesetzt. Andere Alkaloide sind das Codein (0,5 ‑ 3,5 Gew.‑%, Antitussivum und Analgetikum), das Narcotin (6 Gew.‑%, Antitussivum), das Papaverin (0,1‑2 Gew.‑%, Spasmolytikum), das Thebain (Spasmolytikum) u.v.a. (vgl. Geschwinde 1996:227f, Hartwich 1911:195).

Die auf noch höheren Öl‑ und Morphingehalt gezüchtete Somniferum‑Art trat zuerst „ins Licht der Geschichte im östlichen Mittelmeer, in Griechenland, in Kleinasien, auf Zypern und, schemenhaft, im Zweistromgebiet“ (Seefelder 1990:11).

Das Wort Mohn wanderte von Griechenland, wo es ‘mekon’ hieß, ins Russische (‘mak’), ins Deutsche (wo aus ‘mago’, althochdeutsch 9.Jh., allmählich ‘man’, und im 15.Jh. mit verdunkelndem Vokal ‘Mohn’ wurde), und ins Schwe­dische (‘vallmo’, altschwedisch ‘valmoghe’, mit der Vorsilbe ‘vale’= tiefer Schlaf, Betäubung) (vgl. Pfeifer 1997:883f, Seefelder 1990:19, Kreutel 1988:118).

Auch das Wort Opium entstammt der griechischen Sprache. Im antiken Griechenland wurde der Milchsaft der Pflanze allerdings noch nach der Pflanze als ‘Mekonion’ bezeichnet. Das Wort Opium kam erst im 1.Jh. n.Chr. auf und wird zuerst vom Römer Plinius d.Ä. erwähnt (vgl. Kritikos& 1967:6). ‘Opium’ ist eine Verkleinerungsform von griechisch ‘opos’ = Saft, Flüssigkeit (vgl. Kreutel 1988:11), man könnte es etwa mit ‘Säftlein’ oder auch ‘ein Tropfen’ übersetzen.

Ob Schlafmohn und Opium bereits dem mesopotamischen Kulturkreis (Sumerern, Babyloniern und Assyrern) bekannt waren, bleibt umstritten. Für das alte Ägypten ist nach neueren Untersuchungen recht klar, daß Opium bekannt war. Man fand etliche Vasen in Mohnkapsel‑Form mit vertikalen Streifen, imitierte Kapseleinschnitte darstellend, wie sie zur Opiumernte angebracht werden. Die Vasen stammen aus der Zeit ab 1550 v.Chr. „Untersuchungen haben eindeutig die Existenz von Opium‑Spuren in den Vasen ergeben.“ (Kreutel 1988:16) Falls ‘spn’ oder ‘shepen’ in alten ägyptischen Medizin‑Papyri also doch Opium bedeutet (wie lange umstritten), war es „Bestandteil von nicht weniger als 700 Arzneien“ (Selling 1989:277).

Unumstritten dagegen sind die Zeugen für Mohnkultivierung und Opiumverwendung im alten Griechenland. Hesiod erwähnt um 700 v.Chr. eine Stadt ‘Mekone’ auf dem Peloponnes, deren Name sich „von ausgedehnten Mohnkulturen in ihrer Umgebung ableitet“ (vgl. Kreutel 1988:20). Kritikos und Papadaki meinen, daß um diese Stadt auch besonders viele mohnbekränzte Götterbilder der Antike anzutreffen sind (vgl. Kritikos& 1967:10).

Vielleicht stammt die Kenntnis der Opiumverwendung aus Kleinasien oder Ägypten. Für letzteres spricht ein Zitat von Hesiods Zeitgenossen, dem Dichter Homer, um 710 v.Chr, aus seiner Odyssee (siehe Material: Homer). Das Zitat bezieht sich auf die Szene, als der Jüngling Telamachos, Odysseus’ Sohn, voller Verzweiflung von einer ergebnislosen Suche nach seinem verschollenen Vater zurückkehrt. Helena gab ihm daraufhin jenes Mittel Nepenthes, „Kummer zu tilgen und Groll und jeder Leiden Gedächtnis“. ‘Nepenthes’ setzt sich zusammen aus ‘ne’ = ‘nicht’, und ‘penthes’ = ‘Schmerz’.

Viele wollten nicht glauben, daß Nepenthes Opium sei und vermuteten andere Pflanzen oder Helenas Wirkung selbst. Lewin meint hierzu: „Es gibt nur einen Stoff auf der Welt, der so wirkt, und das ist Opium, der Träger des Morphin“ (Lewin 1927:56). „Deutungen mit anderem Ergebnis wurden von solchen gemacht, denen die hier entscheidende Opiumwirkung fremd war ‑ darunter Philologen und auch handwerkliche Fakultätsmänner“ (Lewin 1927:53).

Auch Kreutel meint: „Nach diesen Schilderungen kann kaum ein Zweifel bestehen, daß es sich bei dem ‘Vergessenheitstrank’ um Opium gehandelt hat. Es wird hier bereits als Rauschmittel beschrieben, als Psychopharmakon im modernen Sinne. Das Erlangen von Gleichgültigkeit stellt ein entscheidendes Wirkungsvermögen von Opium dar; denn der zu stillende Schmerz war geistiger Art. Die Verse erzählen auch, daß Opium über ägyptische Händler nach Griechenland eingeführt wurde“ (Kreutel 1988:20).

Noch viel älter als Homer und Hesiod ist ein Zeugnis, das aus der vorhellenischen Zeit stammt, nämlich aus der spätminoischen Kultur der Insel Kreta, aus der Zeit um 1300 v.Chr., und das 1936 bei Heraklion gefunden wurde. Es handelt sich um die Statue einer Frau, die von ihrem Entdecker Professor Marinatos die ‘Mohngöttin’ genannt wurde, denn sie trägt drei Schlafmohnstengel als Zierde auf ihrem Kopf (vgl. Abbildung 2, nächste Seite).

Das Besondere an den Kapseln sind die deutlich sichtbaren Einschnitte, wie sie zur Gewinnung von Opium angebracht werden. Der antike Künstler hat sogar die Kerben dunkler gefärbt, so daß es wie der ausgetretene, herabgelaufene und getrocknete Mohnsaft aussieht (vgl. Kritikos& 1967:23). Kritikos entdeckt noch mehr an der Göttin, die vielleicht auch eine Priesterin war: Sie „scheint ihre Augen geschlossen zu haben, als würde sie schlafen“; „die Passivität ihrer Lippen ist auch ein natürlicher Effekt der Opiumintoxikation“; und: „die Göttin scheint sich in einem Zustand der Betäubung zu befinden, wie er von Opium herbeigeführt wird; sie ist in Verzückung, Freude offenbart sich auf ihrem Gesicht, zweifellos verursacht durch die schönen Visionen, die in ihrer Vorstellung durch die Wirkung der Droge hervorgerufen werden“ (e.Ü., Kritikos& 1967:24).

Professor Kritikos und Papadaki, zwei griechische Pharmaziehistoriker, haben auch genau die mythische Symbolik der Mohnpflanze im antiken Griechenland untersucht. Zahlreiche Gottheiten wurden mit Mohnkapseln oder ‑stengeln bekränzt dargestellt, vor allem: Hypnos (der Schlaf), Nyx (die Nacht) und Thanatos (der Tod).

Aber auch Apollo, Äskulap, Pluto, Demeter, Aphrodite, Kybele, Isis und andere wurden so portraitiert, oft auch mit Kornähren bei den Mohnsträußen (vgl. Kritikos& 1967:17). Auch auf vielen Alltags‑ und Schmuckgegenständen wurden Mohnkapseln dargestellt.

Kritikos und Papadaki kommen zu dem Schluß, daß von den symbolischen Bedeutungen des Mohns für die antiken Griechen auf die Funktionen der Mohnpflanze für sie geschlossen werden kann:

„… in den Händen der prähistorischen Muttergöttinnen, landwirtschaftlicher Gottheiten, und teilweise den späteren Göttinnen Hera, Demeter und Aphrodite kann er [der Mohn] als symbolisch für Fülle, Wohlstand und Fruchtbarkeit betrachtet werden … aufgrund des Öls von der Fülle der Samen …

…In den Händen von Apollo, Äskulap und den Göttern der Medizin sind die Mohn­kapseln ein klares Symbol für die Heilkraft der Pflanze … In den Händen von Pluto, Persephone und den Göttern des Hades steht der Mohn, der auf Grabmälern porträtiert oder in Gräbern gefunden wurde, symbolisch für denTod …

Von speziellem Interesse ist die symbolische Bedeutung der Mohnkapsel in den Händen von Aphrodite, der Göttin des Vergnügens und … der Frucht­barkeit“ (e.Ü., Kritikos& 1967:9f). Daraus schließen Kritikos und Papadaki, daß Opium im antiken Griechenland auch als Euphorikon benutzt wurde, für „Vergnügen und, im erweiterten Sinne, Fruchtbarkeit“. Der „Gebrauch von Schlafmohn und Opium war in den Regionen am weitesten verbreitet, wo Aphrodite am meisten verehrt wurde (Zypern, Korinth, Mekone oder Sykion) …“ (e.Ü., Kritikos& 1967:10).

Aber nicht nur bei griechischen Dichtern und Kultbildern spielten Mohn und Opium eine Rolle, auch Ärzte und Naturwissenschaftler beschäftigten sich damit. Kritikos und Papadaki, die am gründlichsten recherchierten, nennen zwanzig antike Autoren insgesamt, darunter Hippokrates (460‑377? v.Chr.), Aristoteles (384‑322 v.Chr.) und Theophrastus (372‑287 v.Chr.) (vgl. Krtikos& 1976:19ff). Den mei­sten griechischen Ärzten waren die Wirkungen des Opiums ‑ heilsame und todbringende ‑ im Großen und Ganzen wohlbekannt. Nur wenige Ärzte aber warnen vor einer Anwendung, und die abhängigkeitserzeugende Wirkung der Substanz bleibt gänzlich unerwähnt.

Besondere Hoffnungen hätten in der letzten Hinsicht auf Diagoras von Melos (bzw. Milet) gesetzt werden können, von dem Seefelder schreibt: „Diagoras aus Melos (5.Jahrhun­dert vor Christus) … war wohl der erste Arzt, der zwei Eigenschaften des Opiums be­schrieb, die über die medizinische Anwendung hinausweisen, nämlich, daß es zu immer neuer Verwendung verführe und dem, der ihm hörig sei, den Sinn für die Wirklichkeit raube“ (Seefelder 1990:34). Auch Kupfer erwähnt Diagoras in dieser Beziehung: Diagoras „warnte … wegen der erheblichen Suchtgefahr“ (vgl. Kupfer 1996b:14).

Diagoras wird von Plinius d.Ä. und von Dioskurides er­wähnt. „Plinius d.Ä. sagt, daß sowohl Diagoras als auch Epistratos den Gebrauch von Opium bei Ohrenschmerzen zurückwiesen, weil sie es als starkes Gift betrachteten“ (e.Ü., Kritikos& 1967:20).

Bei Dioskurides heißt es: „Diagoras erwähnt, daß Erasistratos den Gebrauch von Opium für Ohrenschmerzen und Augenleiden mißbilligt, weil es die Sicht trübt und ein Narkotikum ist“ (e.Ü., Wellmann 1958: IV,64.6) (vgl. auch Material: Diagoras. Ein interessantes Beispiel einer wissenschaftlichen Legendenbildung.)

Diagoras (oder Epistratos oder Erasistratos) hatten also nichts von „Hörigkei­t“ oder „erheblicher Suchtgefahr“ gesagt, sondern nur vor dem Gebrauch von Opium für einige Leiden ge­warnt, weil es ein Narkotikum sei. Der Sinn der Warnung lag wohl darin, daß ein nur Schmerz betäubendes (=nar­kotisierendes) Mittel, das die Ursache des Augen‑ oder Ohrenleidens aber nicht be­kämpft, für den Patienten fatale Folgen haben kann, etwa Taubheit oder Blindheit. Jedenfalls rechtfertigt die Verwendung des Wortes ‘Narkotikum’ noch nicht die Aussage von Seefelder oder Kup­fer.

Diagoras ist der einzige Arzt der Antike, von dem eine ‘Warnung vor Sucht­gefahr’ des Opiums behauptet wird. Diese Behauptung hält aber näherer Betrachtung nicht stand und scheint eher ein Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts des Fehlens solcher Warnungen zu sein.