C – Das autonome Individuum (Sucht)

Scheerer gibt noch eine Erklärung, warum es vor der Moderne keinen Suchtbegriff im heutigen Sinne gab. „Die Idee der Sucht als einer Hörigkeit gegenüber Rausch‑ und Betäubungsmitteln setzt ein bestimmtes Bewußtsein individueller Autonomie voraus, das sich erst im Zeitalter der Aufklärung voll entwickelte“ (Schee­rer 1995:24).

Individuelle Autonomie ist zwar ein Widerspruch in sich, nimmt man die genaue Wortbedeutung. ‘Individuum’ heißt soviel wie ‘das kleinste Unteilbare’, „Atom im antiken Sinne“ (Pfeifer 1995:578). Ein autonomes Atom, von seinem Platz im molekularen Baustein getrennt, würde sich aber bedeutungslos im Nichts verlieren. Dennoch hat die Aufklärung dieses Konzept als Ideal von der ‘Freiheit des autonomen Individuums’ entwickelt.

Es soll hier die Aufklärung gewiß nicht diskreditiert werden. Der Kampf um individuelle Freiheit und gegen Unmündigkeit und dumpfen Aberglauben war gewiß ein lichtvoller und guter. Es ist wohl auch so, daß gerade durch die neugewonnene Freiheit von alten (feudalen wie religiösen) Zwängen erstmals auch andere Abhängigkeiten, die Menschen plagten, Aufmerksamkeit erregen konnten ‑ etwa die Abhängigkeit von Rauschmitteln. Aber die neue Individualität und Freiheit hatte auch ihre Schattenseiten.

Die Philosophen der Antike hatten ihre Funktion noch darin gesehen, die Gesetze des Kosmos lediglich nachzuvollziehen und den Menschen begreiflich zu machen. Nun aber war der Kreis, der die Menschen mit dem Kosmos verband, zerbrochen ‑ Gott war tot, spätestens bei Nietzsche. „Alle Zeiten vor uns glaubten noch an Gott in irgendeiner Form“ (vgl. C.G.Jung, „Die Archetypen und das kollektive Unbewußte“, Abs.50; cit. in Woodman 1987:31).

Schon zu Beginn der Neuzeit hatte es erste Risse gegeben, war die allumfassende (=katholikos) christliche Lehre in zwei Lager gespalten. Diese beiden standen für zwei Weltanschauungen: in der alten, katholischen waren alle Menschen unter einem Gott miteinander verbunden. Sünder waren alle, Ausgrenzungen aus sozialen Gründen gab es wenige, solange die Hierarchie gewahrt blieb, die ‑ weil paternalistisch ‑ auch verband.

Während das katholische Christentum die Religion des Feudalismus war und sich mit jenem in Europa ausbreitete, so war der Protestantismus (Calvinismus, aber auch Luthertum) die Religion des aufkommenden Bürgertums (vgl. Engels 1989:62f). Mit dem Siegeszug des Bürgertums ab 1800 war dann nicht nur der Kreis mit dem Kosmos zerbrochen, sondern auch der Kreis mit den anderen Menschen ‑ das Individuum wurde autonom. Die Aufklärung leistete in diesem Sinne das radikale Aufräumen des Bürgertums mit der immer noch zähen, alten Religion ‑ das Zentrum dieser Bewegung lag nicht umsonst in Frankreich.

Neben der Sucht tauchte auch der Begriff Kindheit im modernen Sinn erst auf: auch das Kind war nicht autonomes Individuum ‑ konnte es auch nicht werden ‑ sondern blieb Abhängiger, so wie vorher alle Menschen von Gott abhängig waren. Ausgegrenzt wurden mit dem neuen Primat der Selbstkontrolle des autonomen Individuums auch nicht nur ‘Suchtkranke’, sondern auch vermehrt ‘Geisteskranke’ (vgl. Szasz 1972 und 1976). „Beim Aufbau der Moderne, die die Selbstkontrolle zum Konstituens der Identität macht, wird der Kontrollverlust pathologisiert“ (Kleber 1993:137). Auch der Begriff ‘Rasse’ entstand erst jetzt, mit welchem ein Großteil der Menschen ausgegrenzt wurde. Die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit erwachte.

„Die Sucht entspringt C.G. Jung zufolge auf einer niedrigen Stufe dem geistigen Durst des Menschen nach Ganzheit, in mittelalterlicher Sprache: nach der Vereinigung mit Gott“ (Kleber 1993:138).

Der Rauschmittelsüchtige hält allerdings (als ‘Ich‑Subjekt’) an seinem individuellen Willen zum Rauschmittelkonsum auch um den Preis der eigenen Zerstörung fest. „Damit ist der süchtige Charakter der im besten Sinne aufgeklärte, indem er das Subjekt verteidigt, wo es sich den inneren Widersprüchen seiner Konzeption gemäß selbst abschaffen will“ (Kleber 1993:151).

„Die Heilung der Sucht erfolgt … über eine Korrektur des Identitätsmodells“ (Kleber 1993:151).